Dokumentation: Kinder 1/2006  

 

Geschichten im Kopf

Ein Kinderbuch ohne Bilder? Geht das überhaupt? Ulrike Leubner hat´s riskiert. Ihr „Zwergenland“ wurde ein Überraschungserfolg. Hier erzählt die gelernte Erzieherin, wie sie dazu kam.

Kennen Sie die ersten Auflagen des wundervollen Buches Pippi Langstrumpf? Ja, werden Sie sofort sagen und anschließend vielleicht doch darüber nachdenken. Das Buch und die phantasievolle Geschichte kennt wohl jeder – auch ich. Mir war nur nicht bewusst, dass diese Geschichte ohne Bilder berühmt wurde. Es machte uns einfach Spaß, über Pippis Spezialbegriffe wie zum Beispiel die „Plutimikation“ nachzudenken.

Ich arbeite 30 Jahr als Erzieherin in Kindertagesstätten. Bücher waren eines meiner Spezialgebiete. Doch im Laufe der Jahre änderte sich das Zuhörverhalten der Kinder. Unaufmerksamkeit zog Unruhe mit sich, das Vorlesen wurde zunehmend anstrengender. Die ständigen Zwischenrufe der Kinder „Oh, zeig mal! Wo sind denn die Bilder?“ unterbrachen nicht nur meinen Redefluss, sondern auch meine gedanklichen Zusammenhänge. Bei Gesprächen zeigten die Kinder deutliche Wissenslücken. Woran lag das? Vielleicht an den Geschichten in den Büchern?

Im Zwergenland gibt´s praxisnahe Lösungen

Ich begann mir selbst Geschichten auszudenken und erzählte mit großer Begeisterung von Angesicht zu Angesicht. Keiner rief „Zeig mal“, denn es gab nichts zu zeigen. Ich hatte bald begriffen, dass Kinder nicht nur Bilderbücher, sondern auch Geschichten brauchten. Kinder sind kompetent für eigene Phantasien. Lassen wir sie hören, dann gleiten sich die Gedanken in der Geschichte mit – gerade so, als würden sie erleben, was sie da hören. Es ist einfach ein wunderbares Gefühl, wenn Kinderaugen beim Vorlesen an meinen Lippen haften.

Der Vorlese-Spaß kam zurück. Ich packte viele Alltagsdinge in kleine Geschichten. Ich erfand einfach ein neues Land: Das Zwergenland. Dort passierten oft zufällig die gleichen Dinge wie bei uns im Kindergarten. Zwergenland wurde unsere Ratgeberecke, von der auch die Eltern profitierten: Was kann ich gegen Daumenlutschen tun? Wie gewöhne ich meinem Kind das Kippeln ab? Mein Kind bekommt eine Brille – werden die anderen Kinder lästern? fragten Eltern. Im Zwergenland gab es immer eine Lösung.

„Ihre Geschichten haben uns die ganzen Jahre so gut geholfen – machen Sie doch ein Buch daraus“, rieten mir Eltern. Aber: ein Buch veröffentlichen? Werde ich das schaffen? Wie geht das überhaupt?

Auch Kindergeschichten ohne Bilder faszinieren kleine Zuhörer: Ulrike Leubner bei einer Lesung

Ich wollte meine Ideen im Schubfach versenken

Meine inzwischen erwachsenen Kinder jubelten, als sie von der Idee hörten und standen mir moralisch bei. Schließlich sind sie mit meinen Spinn- und Spaßgeschichten groß geworden.

Ich recherchierte, knüpfte Verbindungen und kam bald zu dem Schluss, meine Zwergengeschichten in meinem Schubfach ganz unten zu versenken. Ein Buch für Kinder ohne Illustrationen auf den Seiten? Wer kauft schon so etwas? Schließlich urteilen Eltern heute nur nach den Bilder und nicht nach dem Inhalt der Bücher – hörte ich.

Alles Argumentieren half nicht. Meine acht Seiten illustrierte Landkarte schien überhaupt keinen Wert zu haben – die Bilder müssen auf die einzelnen Seiten verteilt sein, hieß es. Das ist so, das war so und das wird immer so sein. Stimmt das wirklich?

In solchen Situationen mache ich meistens eine Inventur. Ich räume Schränke und Regale aus, sortiere, registriere und finde dabei so manche vergessene Dinge. So auch an diesem Tag. Ich hielt plötzlich ein etwas zerlesenes, aber heißgeliebtes Buch in der Hand: Pippi Langstrumpf. Ein Druck der zweiten Auflage von 1975. Beim Blättern, Lesen und Schmunzeln fiel mir auf: Da gibt es ja gar keine Bilder. Der Mut war augenblicklich zurück, mein Entschluss gefasst: Ich werde mein Buch veröffentlichen.

Testkind Elli konnte gar nicht genug bekommen

Der zweite Versuch, einem Verlag meine Geschichte und das Konzept vorzustellen, war erfolgreich. Eine junge Verlagsleiterin konnte ihre Begeisterung nicht verbergen und hatte Lust auf Nichtalltägliches. Sie lies es sich nicht nehmen, die Wirkung der Geschichten zu testen und wählte ihre fünfjährige Nichte Elli als Testperson. Elli jubelte und konnte gar nicht genug vom Zwergenland bekommen.

Im Mai 2005 war es dann so weit: „Zwergenland ist zwar nicht groß …“ kam auf den Buchmarkt. Und siehe da, mit großem Erfolg! Begeisterte Eltern, Pädagogen und vor allem Kinder kennen schon die ersten dreiundzwanzig Zwergengeschichten und warten sehnsüchtig auf Band zwei. Der soll bis spätestens Weihnachten 2006 fertig sein.